Donnerstag, 1. Mai 2014

Herdenstruktur


Die größte aller Künste ist die des Zusammenlebens.


Da Cheveyo nun um die zwei Stunden auf die Weide darf, hat es sich gelohnt, eine Decke mitzunehmen. Es gibt nichts Spannenderes, als eine Pferdeherde zu beobachten! Wer braucht dann noch Fernsehen!?
Jeder kennt seine Position und doch wird ständig ausgetestet. Die Kleinen trotten noch relativ unbedarft durch die Gegend, gehen in die Richtung, in die ihre Neugier sie treibt. Der „Herdenunterste“ steht oft ein klein wenig abseits. Es scheint, als würde ihn alles gar nicht richtig interessieren. Sogar bei den hin und wieder aufkeimenden Rennspielen beteiligt er sich nicht jedes Mal. Der Draufgänger hat eine große Klappe, aber nichts dahinter. Er tritt massiv dominant auf, um seine eigentliche Unsicherheit zu verbergen. Immer wieder klebt er am Chef, versucht, ihm die Wünsche von den Augen abzulesen… Der Leitwallach sieht das Leben gelassen. Er kümmert sich ums Grasen und, wenn es denn sein muss und einer sich zu weit entfernt hat, dann bringt er ihn zur Gemeinschaft zurück. Ist er der Meinung, dass man weiterziehen sollte, muss er nur leicht die Ohren anlegen und den Kopf nach vorne schnellen lassen, schon setzt sich die Gruppe gemächlich ein paar Schritte voran in Bewegung. Fängt einer mit Rennen an, galoppieren meist alle gleichzeitig los. Außer es ist einer der Kleinen, die werden nicht mehr ganz ernst genommen.
Unaufmerksamkeit wird „bestraft“. Es führt, wer das meiste mitbekommt. Wer nicht aufpasst, gefährdet die Herde. Als Fluchttiere müssen sie sich darauf verlassen können, dass jeder Gefahren meldet und alle bereit sind, im Ernstfall gemeinschaftlich loszupreschen.

Die Stärke der Kette wird durch die Stärke des schwächsten Gliedes bestimmt.


 Nur die Feigheit steht dem Chef manchmal im Wege. „Lieber die anderen, als ich!“, lautet seine Devise. Eigentlich keine mutige Charaktereigenschaft.
Neue Pferde werden erst mal auf Distanz gehalten. Kommen sie der Herde – irgendeinem Mitglied- zu nahe, schießen Chef und sein Handlager, manchmal auch nur einer von beiden, nach vorne und verjagen ihn.  Dabei gibt es nie echte Bisse oder Tritte. Alles ist nur ein Andeuten, Luftschnappen, Ausschlagen und sobald die Distanz reicht, wird in aller Seelenruhe weitergegrast.
Cheveyo darf nun bereits bei den anderen stehen. Manchmal sogar mitten unter ihnen. Da der „Unterste“ wegen einer Kolik die letzten Tage bei Chevy stand, also nicht dauerhaft mit auf der Weide, hat mein Junge sich bereits eine Stufe „hochgearbeitet“. Es beginnt ganz subtil. Zum Beispiel, dass er den anderen überall anstupste, den Mähnenkamm massierte, seinen Kopf an ihm rieb, ihn zur Seite schob oder von seinem Futter ein Stück fern hielt.
Heute ging es auf der Weide weiter. Während er anfangs nur mit den beiden Kleinen geschnüffelt hatte, „schiebt“ er sie jetzt durchaus mal voran. Die leitende Position bei Pferden ist hinten, d.h. der Chef treibt von hinten die anderen vor sich her. Andersrum, selbst wenn ein rangniedriges Pferd von hinten „schiebt“, bewegen sich die Höheren meist nach vorne.
Nun scheint mein Lusi schon an dritter Stelle zu stehen. Ganz ohne dass es jemandem aufgefallen wäre, wenn man sich nicht – so wie ich – stundenlang mit auf die Wiese gesetzt hätte.


Selbst die Scheinattacken des Möchtegerndominanten bewegen ihn jetzt nicht mehr zur Flucht. Stattdessen begegnet er seinem Ansturm teilweise mit angelegten Ohren und festem Stand. Der arme Angreifer ist völlig verwundert und trollt sich meistens gleich wieder. Ob das wohl bedeutet, dass er auch ihn noch „überholen“ möchte?
Und was ist mit dem Chef, vor dem Cheveyo zwar noch weicht, der aber bei Weitem nicht so aufmerksam und mutig wie sein weißer Gegenüber ist?
Es ist schwer, Cheveyo zu „überraschen“. Er bekommt alles mit, selbst wenn er grast. Scheinbar hat er alle Herdenmitglieder im Blick, mich eingeschlossen.
Wenn ich so dasitze, mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt (nicht nur der Bequemlichkeit wegen, es ist gefährlich mitten auf einer Wiese ungeschützt rumzuliegen, wenn die Pferde hin und wieder Rennspiele veranstalten), dann bekomme ich immer wieder von einem Pferd „Besuch“. Kurz „Hallo“ sagen, anstupsen, manchmal etwas schmusen, dann wird weitergegrast.
Sie sind immer in Bewegung. Meist langsam, Schritt für Schritt weitergrasend, hin und wieder gibt es aber auch mal Trab- oder Galoppeinlagen. Wer das sieht, wie frei und fröhlich sie sich bewegen, dem tut die Vorstellung, dass manche Pferde das nie machen dürfen, sondern nur „gearbeitet“ werden und dann in der Box stehen, furchtbar weh.


Da ich dem Chef mit meinem „wegscheuchen“ wohl etwas zu viel Angst gemacht hatte, bin ich jetzt dazu übergegangen, auch auf seine Signale zu weichen. Schon bin ich ihm wieder etwas sympathischer.
Manchmal renne ich auch mit der Gruppe mit. Die Pferde scheinen mich mittlerweile als einen ziemlich irren Menschen zu akzeptieren und wundern sich fast schon, wenn sie weiterziehen und ich nicht mitkomme.
Alles seeehr spannend. Ich frage mich, wie die Herdenstruktur in ein paar Wochen aussieht!

Was dem einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.

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